Kinder mit ADHS sollen künftig noch schneller als bisher Ritalin erhalten. Das sieht die neue Behandlungsleitlinie von 2018 vor. Ritalin ist ein Medikament, das immer wieder für hitzige Debatten sorgt. Es werde viel zu häufig verschrieben und mache Kinder abhängig, sagen die einen. Andere sind der Meinung, dass es noch viel häufiger verschrieben werden sollte. Sie wollen es auch bei leichten Formen von ADHS einsetzen, wo man bisher auf Gesprächs- und Verhaltenstherapie gesetzt hat.
Kinder erhalten künftig schneller Ritalin
Der Wirkstoff von Ritalin trägt den sperrigen Namen „Methylphenidat“. Die Substanz, die chemisch eng mit den Amphetaminen verwandt ist, ist schon lange bekannt. Sie wurde 1944 in den Labors der Firma Ciba in der Schweiz entwickelt. Unter dem Markennamen Ritalin kam es 1954 in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf den Markt. Wenig später folgte die Markteinführung in den USA.
Anfangs wurde Ritalin eher selten verschrieben. Es wurde zur Behandlung verschiedener Verhaltensstörungen eingesetzt. Der große Durchbruch gelang erst in den 1980er Jahren. Bis dahin ging man davon aus, dass Hyperaktivität und Konzentrationsschwäche bei Kindern auf hirnorganische Störungen zurückzuführen sind. Dann setzte sich die Erkenntnis durch, dass die eigentliche Ursache in einer krankhaft veränderten Verteilung von Botenstoffen im Gehirn zu suchen ist. Genau hier setzt Ritalin an. Es verändert den Botenstoffhaushalt so, dass die Kinder ihren (Schul-)Alltag wieder ohne größere Probleme bewältigen können.
In den 1990er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts kam es zu einem regelrechten Boom. Immer häufiger wurde bei unruhigen Kindern ADHS diagnostiziert. Immer mehr von ihnen wurden mit Ritalin behandelt. Kritiker merkten schon früh an, dass die Verschreibungen oft zu schnell erfolgten. Nicht jedes Kind, das Probleme mit Aufmerksamkeit, Impulsivität und Selbstregulation hat, braucht Medikamente. Oft liegen ganz andere Probleme vor, die mit milderen Mitteln oder ganz ohne pharmakologische Hilfe behandelt werden können. Da es aber sehr schwierig ist, solche Störungen zu erkennen und zu diagnostizieren, wurde ADHS zu einer Art Verlegenheitsdiagnose. Die Zahl der Ritalin-Verschreibungen nahm rasch ungeahnte Dimensionen an.
Umkehr einer Trendwende
Um 2010 setzte ein Umdenken ein. Immer mehr Ärzte wandten sich wieder anderen Therapien zu. Sie verschrieben Ritalin nur noch bei schweren Formen von ADHS. Mit der S3-Leitlinie zur Behandlung von ADHS aus dem Jahr 2018 scheint sich dies wieder zu ändern. Es wird nun empfohlen, Psychopharmaka nicht nur bei schweren, sondern bereits bei mittelschweren Formen von ADHS zu geben. Das bedeutet zwar nicht, dass Ritalin rezeptfrei verkauft werden soll, aber Kinder erhalten es nun schneller – auch in Fällen, in denen es bisher nicht verschrieben worden wäre. Studien haben gezeigt, dass es den Betroffenen dadurch rasch besser geht. Kritiker befürchten dagegen, dass die neue Richtlinie zu einer neuen Ritalin-Schwemme führen könnte. Diejenigen, die Ritalin rezeptfrei abgeben würden, sind jedoch in der absoluten Minderheit.
Die Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern werden wohl bis auf weiteres anhalten. Die Neben- und Langzeitfolgen der Medikation sind durchaus ernst zu nehmen. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass auf den von ADHS betroffenen Kindern ein enormer Leidensdruck lastet. Mit einem vernünftigen, auf den Einzelfall abgestimmten Therapieplan, der auch Medikamente wie Ritalin einschließt, lässt dieser Druck in vielen Fällen schnell nach.
Siehe auch
- Neue ADHS-Leitlinie: Kinder bekommen in Zukunft noch früher Ritalin
- Kurzfassung der ADHS-Leitlinie (PDF)
Neuro-Enhancement: Shifting Baselines | lifestyle-hirndoping.info -
[…] die schon in minder schweren Fällen die frühzeitige Verschreibung von Ritalin empfiehlt (siehe hier), wird diese Tendenz aller Voraussicht nach noch verstärken. In den meisten Fällen kommt dabei […]